"Ein möglichst genaues, zutreffendes Bild von der Person eines Hilfsbedürftigen zu geben" (Salomon, 1926, 261), sollte 100 Jahre nach dem Wirken von Alice Salomon eigentlich zum selbstverständlichen Standard sozialdiagnostischer Bemühungen gehören. Die Begrifflichkeit Diagnostik hatte jedoch über viele Jahre hinweg in der Sozialen Arbeit einen zwiespältigen Ruf. In ihrer Aufgabe, sozialen Dysfunktionen vorzubeugen und entgegenzuwirken (Klüsche, 1999), erweist sich Soziale Arbeit als besonders qualifiziert, die Schnittstelle zwischen psychischen, sozialen, physischen und alltagssituativen Dimensionen zu erfassen, wobei sie von Grund auf ein interdisziplinäres und mehrdimensionales Vorgehen anwendet.
In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Soziale Arbeit der Aufgabe gestellt, das Zusammenspiel zwischen personalen, interpersonalen, institutionellen und kulturellen Dimensionen im sozialberuflichen Handlungsfeld in Diagnostik wie Intervention auszuleuchten und zusammenzuführen. Diese Aufgabenstellung verpflichtet Soziale Arbeit in besonderer Weise Ressourcen- und Resilienzaspekte in den Fokus zu nehmen, stellen sie doch in diesem komplexen Bedingungsgefüge zentrale Mediatoren dar. Inzwischen wurden zahlreiche sozialdiagnostische Verfahren entwickelt, auf Fachtagungen zur Diskussion gestellt und kritisch reflektiert (zur Übersicht über die Entwicklungen vgl. Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, Heft 4/2010).
Resilienz- und Ressourcenaspekte spielen in den referierten Verfahren und Vorgehensweisen nicht immer, aber häufig eine wichtige Rolle. Oftmals geschieht es unter dieser Perspektive jedoch, dass dabei der Fokus auf Problemlagen in den Hintergrund gerät. Kritische Stimmen behaupten gar, eine ressourcenorientierte Haltung vermittle zuweilen das Gefühl, man dürfe Probleme nicht mehr in den Fokus nehmen – im Sinne der Devise "Gute Laune auf Befehl" (vgl. Gielas, 2011). Der vorliegende Artikel fokussiert die enge Verflechtung von Problemlagen und Ressourcen entlang konzeptioneller Überlegungen aus der Klinischen Sozialarbeit, wonach Gesundheit, Krankheit und Beeinträchtigung als in der Biografie und im gesellschaftlichen Kontext verankert zu betrachten sind. Die Ambivalenz von Komplexitätsgewinnung und Komplexitätsreduktion wird entlang der Grundkonzeption "diagnostischen Fallverstehens" (Heiner, 2010; Heiner & Schrapper, 2004) durch eine prozessuale Betrachtungsweise berücksichtigt. Nach einführenden Überlegungen zur Ressourcendiagnostik im Sinne einer handlungspraktischen Verortung wird das Modell an einem konkreten Fallbeispiel aufgespannt.
Glemser, Rolf (2010). Psychosoziale Diagnostik im Suchtbereich: bio-psycho-sozial denken und handeln. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 41 (4), S. 84-95
Glemser, Rolf (2008). Evaluation der Wirksamkeit klinisch-sozialarbeiterischer Interventionen in einer Einrichtung der ambulanten Suchthilfe. München; Ravensburg: Grin-Verlag